Eine grosse (nicht nur lange) Geschichte
Im Jahr 1460, als die Medizinische Fakultät der Universität Basel gegründet wurde, befand sich die Medizin in einem fundamentalen Wandel. Die tradierte Fixierung auf Autoritäten wie Galen und Avicenna wurde allmählich abgelöst durch die Aufwertung der eigenen unmittelbaren Beobachtung. Diese Frontstellung wird unter anderem exemplarisch greifbar in der Vertreibung von Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus) von der Medizinischen Fakultät Basel im Jahre 1528. Weil er die eigene Anschauung und Erfahrung über die alte Lehre stellte, wurde er von einer den Traditionen verpflichteten Bürgerschaft verjagt, allerdings nicht ohne die Idee einer neuen Medizin durch 12 Vorlesungen und einige Schriften in Basel auzusäen.
Paracelsus war wesentlich durch die Bemühungen eines der führenden europäischen Buchdrucker, Johannes Frobenius, nach Basel geholt worden. Basels führende Rolle im Buchdruck (neben Venedig) brachte auch eine zweite wichtige Persönlichkeit der Geschichte der europäischen Medizin nach Basel: Andreas Vesalius, auch er ein Vertreter der Ansicht, dass die eigene Anschauung für ein gutes Urteil unverzichtbar sei. In den Jahren zuvor hatte er zahlreiche eigene Sektionen durchgeführt und kannte das Innere des menschlichen Körpers besser als die meisten anderen europäischen Mediziner. Er hatte von einem Schüler Tizians das Zeichnen gelernt und arbeitete mit Stechern zusammen, um seine Beobachtungen so genau wie möglich festzuhalten. Aus eben diesem Grund kam er nach Basel, weil er dort die besten Fachleute im Buchdruck fand, die imstande waren, die Abbildungsgenauigkeit auch bei hohen Auflagen zu gewäherleisten. So sind die in seinem "De humani corporis fabrica" enthaltenen Darstellungen so genau, dass sie das Medium der anatomischen Atlanten begründeten und über Jahrhunderte hinweg den Standard anatomischer Darstellungen definierten.
Zu den von Vesalius inspirierten Medizinern kann der Basler Felix Platter gezählt werden. Als er ab 1559 in Basel öffentliche Sektionen durchführte, wurde die eigene Anschauung nicht mehr kategorisch abgelehnt, wie dies noch bei Paracelsus der Fall war. Felix Platter hatte durch eigene Untersuchungen unter anderem in den Bereichen Anatomie, Psychologie, Pharmazie und Epidemiologie unmittelbaren Anteil daran, dass sich die Medizin immer mehr zu einer empirischen Wissenschaft entwickelte, die in einer gemeinschaftlichen, über Jahrhunderte hinweg betriebenen, Arbeit Beobachtungen amalgamiert und bessere Therapien entwickelt.
Obwohl Paracelsus vom Hof gejagt wurde und Vesalius nur kurz in Basel weilte, kam die Medizinische Fakultät doch durch sie – und andere Akteure – in hinreichend engen Kontakt zu einer damals neuen Schule des Denkens, die bis heute prägend geblieben ist. Das von Paracelsus als "experimenta ac ratio" bezeichnete Prinzip der Verschränkung von eigener Anschauung und rationalem Denken prägt bis heute unser Selbstbild. Heute sprechen wir von "praxisbasierter Forschung", von "Translation", von einer Lehre auf dem neuesten Stand der Forschung – und aktualisieren damit eine seit Jahrhunderten zukunftsweisende Idee.
Literatur: Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1460- 1960, Basel 1960.
Georg Kreis, Die Universität Basel 1960-1985, Basel 1986.
Webseite Universitätsgeschichte Basel 1460–2010, https://unigeschichte.unibas.ch/ (20.04.2023).