Die Medizinische Fakultät im Spannungsfeld von Theorie und Praxis
"Vor der Errichtung der Universität bestanden keine medizinischen Polizeiverfügungen, die Ausübung der Arzneikunst war frei", so berichtet Friedrich Miescher-His in seiner Geschichte der Medizinischen Fakultät (1). In anderen Worten: die Menschen wurden von Laien behandelt, und dies obwohl es durchaus gelehrte Mediziner gab. Die waren allerdings beschäftigt mit der Lektüre und Interpretation antiker Schriften über Humoralpathologie (alias Säftelehre), etwa von Hippokrates, Dioskurides oder Galen. An der neu gegründeten Medizinischen Fakultät der Universität Basel wurden die Studierenden zunächst eben darin unterrichtet. Aber die damalige Welt – und mit ihr die Medizin – stand am Vorabend einer Revolution, die den selbständigen empirischen Wissenserwerb, also die Forschung, an die Stelle der alten Bücher setzte.
Die alte Lehre verlor ihre Autorität, als Kolumbus neue Kontinente entdeckte, Vesalius neue anatomische Details und Galilei neue Himmelskörper. Nichts davon war in den antiken Schriften erwähnt, und so begann man, ihnen zu misstrauen und stattdessen direkt im "Buch der Natur" (2) zu lesen. Dieses neue Paradigma wurde in Basel zunächst von Paracelsus vertreten. Einer seiner Leitsätze ist "experimenta ac ratio", die skandalöse Behauptung also, dass mit der eigenen unmittelbaren Erfahrung und rationalem Denken bereits alle Elemente des Wissens vorhanden seien. Vesalius zeigte der Basler Bevölkerung durch die öffentliche Sektion eines hingerichteten Verbrechers, dass die eigenen Augen mehr sehen können als in den humoralpathologischen Schriften zu finden war. Felix Platter machte die empirisch festzustellende Wirksamkeit zum Massstab einer medizinischen Behandlung und kann darin als Vorvater der translationalen Forschung angesehen werden. Diese Prinzipien sind in Basel seither fest verankert. Zahllose Hände, Augen und Köpfe haben über Jahrhunderte hinweg die damals initiierte gegenseitige Schärfung von wissenschaftlicher Theoriebildung und diagnostischer, therapeutischer, pflegerischer und rehabilitatorischer Praxis immer weiter vorangetrieben und so ihren Teil dazu beigetragen, dass die Medizinische Fakultät heute zu den besten der Welt gehört.
Im November 1459 erhielt der Rat der Stadt Basel von Papst Pius II. eine Stiftungsurkunde und damit die Erlaubnis zur Gründung einer neue Universität. Nur fünf Monate später, am 4. April 1460, fand die feierliche Gründungsmesse statt, und Bischof und Altbürgermeister erklärten gemeinsam die Universität für eröffnet. In Basel begann der Vorlesungsbetrieb in allen vier Fakultäten (Theologie, Philosophie, Recht und Medizin) bereits am Tag nach der Eröffnungsfeier, also am 5. April 1460.
Die Abbildung aus dem ersten Rektoratsmatrikel der Universität zeigt die Gründungsfeier im Münster und zugleich, welche gesellschaftlichen Koordinaten in der Welt von damals herrschten: In der Bildmitte vor dem Altar sitzt der Bischof Johann von Venningen. Mit seiner rechten Hand ernennt er den vorne links knienden Dompropst Georg von Andlau zum Rektor der neu gegründeten Universität Basel, mit seiner linken Hand überreicht er dem Abgeordneten des Rats, Johann von Flachsland, die päpstliche Stiftungsurkunde. Links vom Altar geht es eine angedeutete kirchliche, rechts davon eine ebenso nur angedeutete bürgerliche Ordnung hinab. So stellt das Bild nicht nur die von Gott, Papst und Bischof getragene Universitätsgründung dar, sondern auch eine ebenso strikte wie letztlich steile gesellschaftliche Hierarchie.
Dabei macht das Bild ungewollt einen inneren Widerspruch deutlich: Wie alle anderen Universitäten so wird auch diejenige Basels in den nachfolgenden Jahrhunderten ihren Beitrag dazu leisten, diese allein auf Gott ausgerichtete gesellschaftliche Ordnung aufzulösen. Mit Gottes Segen wird hier eine Institution gegründet, die beginnt, im sogenannten "Buch der Natur" wie in einer zweiten Bibel zu lesen und dort Dinge zu finden, die mit der katholischen Lehre nicht in Einklang zu bringen waren.
So liessen sich frühe Anatomen wie Andreas Vesalius nicht mehr davon abhalten, Sektionen durchzuführen und sich einen eigenen Einblick in den menschlichen Körper zu verschaffen. Infolge dieser Neugier wurde die Vorstellung von Krankheiten als christlich-moralische Entitäten durch die Bestimmung irdischer Ursachen entkräftet, und diese Kenntnisse wiederum wurden in Massnahmen zu ihrer Bekämpfung, Linderung oder Vermeidung übersetzt. So und auf tausend anderen Wegen wurden die Universitäten, unter ihnen diejenige Basels, zu treibenden Kräften eines völlig neuen Weltbildes, in dem auch gesellschaftliche Ordnungen von Grund auf neu ausgehandelt wurden. So gesehen zeigt die dem Rektoratsmatrikel vorangestellte Darstellung nicht nur die Übergabe der päpstlichen Stiftungsurkunde, sondern, unbeabsichtigt, auch die Übergabe der Deutungshoheit über die irdische Welt in die Hände der eigenen Anschauung, Erkundung und Beurteilung.
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Freilich ist die Geschichte der Medizinischen Fakultät keine gerade Linie zwischen ihrer Gründung und der Gegenwart. Über das Auf und Ab und die vielen kleinen und grossen Geschichten gibt dieser Abschnitt unserer Webseite Auskunft. Der Löwenanteil der hier dargestellten Materialien wurde von Prof. Dr. Michael Mihatsch zusammengetragen, viele Texte wurden von ihm verfasst. Darüber hinaus finden Sie viele Informationen auch auf den Seiten zum 500. Geburtstags der Universität Basel.
Auf den hier versammelten Webpages finden Sie zahlreiche Informationen über den Werdegang, die Krisen und Konjunkturen der Medizinischen Fakultät. Lesen Sie sich zum Beispiel fest in den Listen unserer Ordinariate (Lehrstühle), Ordinarien (Professor:innen) und Behausungen. Ganze Bücher können Sie online lesen, zum Beispiel Friedrich Miescher-His‘ Buch über die Medizinische Facultät in Basel und ihr Aufschwung unter F. Plater und C. Bauhin von 1860 oder Albrecht Burkhardts Geschicht der Medizinischen Fakultät von 1917. Der weitaus grösste Teil der Informationen auf dieser Webseite wurde zusammengetragen von Prof. Dr. Michael Mihatsch, Sabine Braunschweig, Seline Schellenberg Wessendorf und Rosanna Notaro. Ohne sie sowie zahlreiche Fachvertreter, die bei der Erstellung der Biografien geholfen haben, wären insbesondere die Listen der Ordinariate und Ordinarien nicht verfügbar.
- (1) Friedrich Miescher-His, Die Medizinische Facultät in Basel und ihr Aufschwung unter F. Plater und C- Bauhin, Basel 1860, S. 6
- (2) Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Band 592, Frankfurt am Main 1989