Medizinethik an der Medizinischen Fakultät. Meilensteine - Hindernisse - Konsolidierung
Das Jahr 2008 nimmt in der Entwicklung der Medizinethik in der Schweiz eine wichtige Stellung ein: In dem neuen Schweizerischen Lernzielkatalog wurden ethische Kompetenzen der angehenden Ärzte und Ärztinnen mit grosser Deutlichkeit verankert. Damit wird eine Entwicklung festgeschrieben, die man in Basel schon durch proaktive Pionierarbeit vorweg genommen hatte. Für die Etablierung von Lehre und Forschung der Medizinethik begann die Geschichte in der Basler Medizinischen Fakultät nämlich schon Jahre zuvor. Erste Akzente wurden früh aus verschiedenen Fächern gesetzt, nicht zuletzt mit Hilfe der Medizingeschichte.
Gründung
2000 wurde dank einer Stiftung des ANNE FRANK-Fonds die Einrichtung des «ANNE FRANK Ethik-Lehrstuhls» an der Universität möglich. Die internationale Ausschreibung sah vor, dass mit der Besetzung ein Schwerpunkt aus der Breite der praxisorientierten, «angewandten» Ethik in den Vordergrund treten sollte. Mit der Wahl und Berufung von Prof. Stella Reiter-Theil, fiel die Entscheidung zugunsten der Medizinethik. Ab 2001 konnte die Fakultät daher auf eine hauptamtliche Professorin für Medizinethik zählen.
Das neu gegründete Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik (IAEME) wurde einvernehmlich in der Medizinischen Fakultät angesiedelt und sollte auch beim Aufbau des Departements Public Health mithelfen. Nun begann der Ausbau von Unterrichtsangeboten und Forschungsprojekten. Dem ‹zarten Pflänzchen› Medizinethik kamen in der Lehre die Studienreform und die Erkenntnisse aus der Pilotakkreditierung entgegen. Schritt für Schritt wurde im Curriculum Inhalten der Medizinethik Raum gegeben und Anerkennung stellte sich ein.
Parallel konnten die in die Schweiz transferierten Drittmittelprojekte des Instituts zur klinisch-ethischen Kooperationsforschung (z.B. zur Therapiebegrenzung in der Neonatologie, der Onkologie und der Intensivmedizin) Fuss fassen und bereiteten Folgeprojekten den Weg. Ein Netz von Kooperationspartnern wurde und SNF-Projekte mit der Operativen Intensivbehandlung und Akutgeriatrie starteten.
Aufbauphase
Die Aufbauphase der Jahre 2001 bis 2005 des Instituts für Angewandte Ethik und Medizinethik war gekennzeichnet von der Verbindung zwischen internationaler und lokaler Zusammenarbeit, vor allem mit und in der Medizinischen Fakultät, mit klinischen Abteilungen, aber auch – dem Auftrag der Angewandten Ethik entsprechend – mit der Fakultät für Psychologie und den Naturwissenschaften.
Ein weiteres wichtiges Ereignis war die Entscheidung für eine Kooperation mit der Universität Bern. Als eine Antwort auf die Standortdiskussion über die Medizinischen Fakultäten in der Schweiz wurde bereits 2004 beschlossen und geplant, von Basel aus auch in Bern Medizinethik zu unterrichten. Beginnend mit 2005 startete die Medizinethik Basel-Bern – ein erstes und bis heute harmonisches Vorzeigeprojekt für die Allianz.
Auf internationaler Ebene wurde der internationale Nachdiplom-Studiengang «European Master in Bioethics»(EMB) gemeinsam mit den kooperierenden Universitäten Leuven, Nijmegen und Padua ins Leben gerufen, der seither Akademiker/innen aus fünf Kontinenten nach Basel bringt. 2005 bewilligte die Europäische Kommission zusätzlich das parallele ERASMUS-Programm. Zudem erhielt der «European Master in Bioethics» – als Kombination aus Fern- und Präsenzstudium – von der Europäischen Kommission eine ausgezeichnete Akkreditierung.
Darüber hinaus wurde die Arbeit mit verschiedenen Preisen gewürdigt: Ein vom Institut entwickeltes Unterrichtsmodul («Entscheidungen am Lebensende») erhielt einen italienischen Förderpreis, eine Dissertation zu ethischen Problemen der Reanimation in der Notfallmedizin bekam eine Basler Fakultätsauszeichnung.
Bereits 2001 wurde die Idee eines Forums für internationalen und akademischen Austausch geboren. Zusammen mit Prof. George Agich, damals Cleveland, Ohio, entwickelte Prof. Stella Reiter-Theil die Serie«International Conference: Clinical Ethics Consultation». Professor Agich veranstaltete die erste Konferenz 2003 mit 150 Teilnehmern an der Cleveland Clinic Foundation aus den USA, aber auch aus Europa. Professor Agich konnte 2004 mit Förderung der FAG (Freiwillige Akademische Gesellschaft) als Visiting Professor nach Basel kommen.
Basel wurde Gastgeber der 2. Konferenz, an der über 300 Experten und Expertinnen teilnahmen. Diese Konferenz war ein wichtiger Durchbruch: Zum ersten Mal war Europa mit der klinischen Ethik international hervorgetreten. Von nun an bewarben sich die Zentren um die Gastgeberrolle für den ICCEC: 2007 Toronto, Kanada; 2009 Taipeh, Taiwan; 2010 Portland, Oregon. In Basel wird 2005 das ECEN gegründet, das European Clinical Ethics Network, das sich innerhalb von drei Jahren zu einer produktiven Gruppe entwickelt hat.
Die Entwicklung des Instituts wurde mit grossem Interesse und eigenem Engagement vom Vorstand des ANNE FRANK-Fonds begleitet. Insbesondere der Präsident des Fonds und Cousin von Anne Frank, der bekannte Schauspieler Buddy Elias, und seine Frau Gerti Elias, die als zentrale Ansprechperson aus dem Vorstand des Fonds für die Universität firmiert, sind bei wichtigen Veranstaltungen des Instituts stets präsent.
Jahre der Unruhe
Nach 2005, dem Ablauf der Stiftungsphase, folgten Jahre der Unruhe. Die Medizinische Fakultät übernahm zwar das Institut, das Fach «Medizin- und Gesundheitsethik» war jedoch nach aussen noch wenig befestigt, und die Strukturen wurden universitär diskutiert, insbesondere die Zuordnung. Die Medizinische Fakultät war gefordert. Die Unruhe stand in einem Spannungsverhältnis zur Arbeit als solcher, den angewachsenen Lehrverpflichtungen, den laufenden Projekten und der lokalen und internationalen Vernetzung. Dies zeigte sich beispielsweise in der Initiative zur Etablierung eines PhD-Programms für Medizin- und Gesundheitsethik, das in interdisziplinärer Kooperation zwischen Medizin und Psychologie gestellt wurde: 2007 waren es acht Projekte, fünf stehen vor dem Abschluss. Als 2008 die neue Promotionsordnung endlich die universitären Instanzen absolviert hatte, atmeten die Kandidaten auf.
Der ANNE FRANK-Fonds blieb in dieser Zeit weiterhin zugewandt und artikulierte den Wunsch nach Kontinuität in der von ihm geförderten Arbeit. Das besondere Engagement einer zentralen Stiftungspersönlichkeit für das Institut wird 2007 von der Medizinischen Fakultät gewürdigt: Frau Dr. h.c. Gerti Elias empfing die Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizin am Dies Academicus aus den Händen von Dekan Professor Albert Urwyler.
Bestätigung: ja. Konsolidierung: wann?
Internationale Entwicklungen lieferten wichtige Bestätigung für die am Institut eingeschlagene und vertretene fachliche Orientierung einer interdisziplinären, praxisorientierten Ethik in der Medizin, die auch empirische Ansätze einbezieht. Eine der hochrangigen internationalen Zeitschriften des Ethik-Feldes – «Bioethics» - plant ein Themenheft zur Integration empirischer Ansätze. Aus dem anfänglichen Risiko wird geradezu ein Hit. Auch das Unternehmen, die Klinische Ethik in Richtung eines akademischen Diskurses weiter zu führen, findet prominente Resonanz in zwei Themenheften angesehener Zeitschriften: 2008 im europäischen «Medicine, Health Care and Philosophy» und 2009 im amerikanischen «Cambridge Quarterly Healthcare Ethics».
2008 wurde ein wichtiges Jahr: Unter der Führung von Dekan Professor Albert Urwyler bejahte die Medizinische Fakultät einmütig, dass sie das Fach "Medizin- und Gesundheitsethik" braucht und als integralen Bestandteil der Fakultät betrachtet. Aus dem Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik wird der Fachbereich für Medizin- und Gesundheitsethik (MGE); die Personen sind dieselben; die Projekte laufen weiter – intensiver denn je. Die etablierten Partnerschaften sind stabil. Das interdisziplinäre Team ist produktiv. Die Arbeit ist international sichtbar.
Die Lehre wird ein weiteres Mal einer grossen Studienreform unterzogen. Das Medizinstudium wird in ein Bachelor- und ein Masterprogramm übergeführt. Zusammen mit dem neuen Lernzielkatalog bedeutet dies vor allem eines: viel Arbeit für den Fachbereich für Medizin- und Gesundheitsethik. Wie alle Fächer gewinnt auch die Ethik mit der neuen Studienreform neue curriculare Nachbarschaften und Kooperationen, z.B. im Themenblock P-E-R: Psyche-Ethik-Rechtsmedizin – eine innovative und fruchtbare Konstruktion. Durch den neuen Lernzielkatalog, aber auch durch neue Weiterbildungsbestimmungen gewinnt die Medizinethik als Fach weiter an Bedeutung in der Schweiz.