Geschichte der Anästhesiologie in Basel

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In den letzten siebzig Jahren hat sich die Basler Anästhesiologie von einem Ein-Personen-Fach zu einem Departement mit mehr als 250 Mitarbeitenden entwickelt. Aus einer Unterabteilung der Chirurgie wurde ein eigenständiges, stark ausdifferenziertes Fachgebiet, dessen Zuständigkeit sich längst nicht nur auf die perioperative Medizin beschränkt.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs existierte die Anästhesiologie in der Schweiz und den meisten Ländern Europas noch nicht als eigenständiges Fach. Obwohl in den Jahren zuvor wegweisende Entdeckungen gemacht worden waren, welche Schmerzfreiheit und Immobilisation für immer grössere und komplexere Operationen ermöglichten, war das «Narkosewesen», wie es damals hiess, ein Stiefkind der Chirurgie. Die Medizin der Schweiz war primär durch Kontakte mit den direkt angrenzenden Ländern geprägt. In den meisten kontinentaleuropäischen Ländern gab es in der Anästhesiologie einen deutlichen Entwicklungsrückstand im Vergleich zu den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern, wo damals bereits bedeutungsvolle Fortschritte zu verzeichnen waren. Ein internationaler Austausch war während des Krieges erschwert, ja sogar unmöglich. Die anästhesiologische Versorgung oblag den Chirurgen, welche die Behandlungen an ihre Narkoseschwestern delegierten. Gelegentlich mussten auch chirurgische Assistenzärzte Narkosen durchführen, wozu sich aber niemand drängte, weil dies nicht als ärztliche Aufgabe gesehen wurde. Fortschritte blieben weitgehend aus. Lokal- und Leitungsanästhesien dominierten, und die Indikationen für die Operationen mussten eng gestellt werden.

Die Implementierung neuerer Anästhesietechniken erfolgte in Basel aber auch in der ganzen Schweiz nur sehr zögerlich. In England, den USA und Kanada war die Durchführung von Narkosen immer eine ärztliche Aufgabe, was sich als Vorteil für Innovationen erwies. Mit Hilfe von Curare und endotrachealer Intubation konnten Allgemeinanästhesien durchgeführt werden, die den hier praktizierten Methoden haushoch überlegen waren. So konnten dort grössere, komplexere und längere Operationen mit besseren Resultaten durchgeführt werden.

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) unter dem Vorsitz von Alfred Gigon (Basel) sowie einzelne Chirurgen von Universitäts- und Privatspitälern kamen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Einsicht, dass in der Schweizer Anästhesiologie ein grosser Nachholbedarf bestand. Die SAMW fasste 1946 den Beschluss, einen Schweizer Stipendiaten für längere Zeit nach Boston zu Henry K. Beecher zu senden. Werner Hügin, der sich bereits als chirurgischer Assistent mit Curare befasst hatte, erhielt das Stipendium und wurde nach anschliessendenKurzaufenthalten in Schweden und England 1949 zum Leiter der Unterabteilung für Anästhesie an der Chirurgischen Universitätsklinik Basel ernannt.

Die akademische Einstufung der Anästhesiologie in der Medizinischen Fakultät der Universität Basel erfolgte 1963 durch die Einrichtung des Extraordinariats für Anästhesiologie. Bereits zwei Jahre später erfolgte dann die Schaffung des Ordinariats für das Fach.

Die weiteren Entwicklungen der Anästhesiologie waren äusserst dynamisch. Neuere Erkenntnisse in der Physiologie, Pathophysiologie und Pharmakologie zusammen mit der Implementierung neuer technischer Geräte, Instrumente und Medikamente führte zu einem bemerkenswerten Schub von vielen Innovationen. 

Die technische Entwicklung von Respiratoren erlaubte eine immer bessere intraoperative Beatmung der Patienten. Die Geräte konnten aber konsekutiv auch für die postoperative Nachbeatmung nach grossen Operationen oder für die Kurz- oder Langzeitbeatmung nach Trauma und zur Behandlung der respiratorischen Insuffizienz im Kontext mit zahlreichen Erkrankungen auf der Intensivstation eingesetzt werden.

Die perioperative Überwachung der Patienten, welche während Jahrzehnten ausschliesslich aus guter klinischer Beobachtung, Palpation des Fingerpulses, Auskultation von Herz und Lunge mit dem Stethoskop und einzelnen Blutdruckmessungen mittels Manschette bestand, wurde durch die Einführung von elektronischen Geräten für das kontinuierliche Monitoring der Herz- Kreislauffunktion verbessert. Die Ableitung des Elektrokardiogramms wurde zur Routine. Der Einsatz von Transducern ermöglichte kontinuierliche Druckaufzeichnungen, vorab des Herz- Kreislaufsystems. Die Messung der Sauerstoffsättigung mittels Pulsoxymetrie wie auch des endexpiratorischen CO2ermöglichte es physiologische Parameter während der Anästhesie über längere Zeit innerhalb gewünschter Bereiche zu halten, hypoxische Phasen zu vermeiden und den Metabolismus abzuschätzen. Weitere Innovationen erfolgen mittels Verwendung der Ultraschalltechnik, welche durch den intraoperativen Einsatz eine hochpräzise Überwachung der Herzfunktion oder auch gezielte Injektionen zur Blockade selektiver Nerven mit Lokalanästhetika zur Schmerzausschaltung während Operationen oder bei chronischen Schmerzen erlaubt. Die Regionalanästhesie - ausgeführt als rückenmarksnahe oder peripherer Regionalanästhesie - hatte sich bereits vorher als Alternative zur Vollnarkose für gewisse Operationen etabliert.

Neue Medikamente ermöglichten einen immer gezielteren Einsatz der am besten geeigneten Substanzen oder deren Kombinationen für den individuellen Patienten – also vom Prinzip her «personalisierte Anästhesie» bevor dieser Begriff in der Medizin breitere Verwendung fand.

Klinisch wurde die Spezialisierung der Anästhesie zunehmend wichtiger. Die Qualität der Medizinischen Versorgung war und ist den Mitarbeitenden in der Anästhesiologie ein zentrales Anliegen. Die unterschiedlichsten Erwartungen und Ansprüche seitens der Fachvertreter operativer Disziplinen führten zu einer Vielzahl von spezialisierten Narkosetechniken. Daraus entstanden anästhesiologische Subspezialitäten, die für den Fortschritt in sämtlichen chirurgischen Disziplinen unverzichtbar waren. So ist es nicht erstaunlich, dass für die komplexeren chirurgischen Fachgebiete in grösseren Spitälern zunehmend eigene Anästhesieabteilung entstanden, wie beispielsweise für Herz- oder Neuroanästhesie.

Die praktischen und theoretischen Erfahrungen und Kenntnisse der Anästhesisten waren auch von Bedeutung für Fortschritte in den angrenzenden, fachverwandten Gebieten. Dadurch war die Basis für das fachliche Spektrum der Anästhesiologie, bestehend aus den vier Kerngebieten Anästhesie, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin gelegt, die sich konzeptionell für mehrere Jahrzehnte bewährt hat und vielerorts immer noch existiert.

Durch die historisch gewachsene Subspezialisierung der Anästhesiologie und ihren Erfolgen präsentieren sich heute primär zwei Herausforderungen: Erstens werden Organisation und Planung der Weiterbildung immer komplexer. Die Bestrebungen einzelner Kerngebiete zu vermehrter Autonomie sind eine Folge der fortschreitenden Spezialisierung. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diverse Kenntnisse und Erfahrungen ausserhalb eines einzelnen Kerngebiets für eine kompetente Patientenbehandlung unverzichtbar bleiben. Es wird somit immer schwieriger, diese Kenntnisse ohne Unterstützung von aussen zu erwerben. Zweitens muss ein nachhaltiger Bezug zu den Innovationen in der gesamten Medizin erhalten bleiben. Beide Herausforderungen sind eng mit der Akademie verknüpft. Bestrebungen die Anästhesiologie angesichts ihrer heutigen Sicherheit als «akademisches Sparpotential» zu betrachten sind kritisch zu hinterfragen. Ohne Investitionen in den genannten Bereichen besteht die Gefahr, dass sich die Geschichte der Anästhesiologie in Basel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eines Tages wiederholt.